Gestern
war der Stuhl frei. Gestern war sie froh, daß
in der Mittagspause alles sehr schnell geht.Beim
Abendessen sprechen die Eltern davon, daß
sie einmal jung waren. Vater sagt, er meine es nur
gut. Mutter sagt sogar, sie habe eigentlich Angst.
Sie antwortet, die Mittagspause ist ungefährlich.Sie
hat mittlerweile gelernt, sich nicht zu entscheiden.
Sie ist ein Mädchen wie andere Mädchen.
Sie beantwortet eine Frage mit einer Frage.Obwohl
sie regelmäßig im Straßencafé
sitzt, ist die Mittagspause anstrengender als Briefeschreiben.
Sie wird von allen Seiten beobachtet. Sie spürt
sofort, daß sie Hände hat.Der
Rock ist nicht zu übersehen. Hauptsache, sie
ist pünktlich.Im
Straßencafé gibt es keine Betrunkenen.
Sie spielt mit der Handtasche. Sie kauft jetzt keine
Zeitung.Es
ist schön, daß in jeder Mittagspause
eine Katastrophe passieren könnte. Sie könnte
sich sehr verspäten. Sie könnte sich sehr
verlieben. Wenn keine Bedienung kommt, geht sie
hinein und bezahlt den Kaffee an der Theke.
An
der Schreibmaschine hat sie viel Zeit, an Katastrophen
zu denken. Katastrophe ist ihr Lieblingswort. Ohne
das Lieblingswort wäre die Mittagspause langweilig.
Quelle:
Wolf Wondratschek, Früher begann der Tag mit
einer Schusswunde
Hanser-Verlag, München 1969, S.52-53